Klaras Geschichte - Leseprobe
PROLOG
Ich will die Geschichte von Klara erzählen, vielleicht weil sie
meine eigene ist.
Klara war nach niemandem genannt. Nach der eigenen Mutter nicht und
nicht nach der Mutter der Mutter. Aus ihr war kein Mariechen geworden,
auch keine Anna, selbst unter fernen Ahnen taucht der Name
nicht auf. Sie war Klara, der Vater hatte es so gewollt.
Wie jedes Kind war sie einzig - punktum.
Viel zu lange hatte ich sie aus den Augen verloren, die Ereignisse
und das Kind. Hatte, wie es so ist im Leben, mit dem ganz gewöhnlichen
Alltag zu tun. Beruf, Heirat, Kinder - die übliche Hetze - bis eine
Zeit kam, in der ich wirklich allein war. Bis aus der Not heraus das
Bedürfnis entstand, in eine Art Kindheitstraum einzutauchen, auf
die eine oder andere Art ist er jedem bekannt. Erfahrungen kommen erst
später.
Auf der Suche nach Träumen der Kindheit ist eines gewiss:
Wir müssen
uns in ein Labyrinth begeben, zu Höhlen mit Bildern, die uns
die Welt eröffnet haben, nicht jeder ist dazu bereit. Wir
sehen, wie wir einmal waren, ganz unverzerrt. Alle prägenden
Ereignisse, alle Freuden, alle Leiden hat dieses Traumkind in sich
vereint und für
uns aufbewahrt, für den Weg in die Kindheit als Urbild des
einfachen Glücks.
EINS
Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder ...
Die heilige Anna, die Mutters Mutter und Klaras Großmutter ist,
steht mit gefalteten Händen. Sie betet, wie sie in Notzeiten immer
beten wird: lautstark und unvermeidlich. Von der Mutter gehalten das
hellblonde Kind auf dem Fensterbrett, der Großvater an ihrer Seite.
Panzer mit langen Rohren rasseln vorbei, die Erde erschüttert, es
braust in den Ohren, im Haus vis à vis winken Leute. Juni sechsundvierzig,
mit drei und ein bisschen setzt bei dem Kind die Erinnerung ein. Der
Himmel öffnet seine Schleusen, der Rinnstein fasst das Wasser nicht
mehr. Sie darf - welch ein Tag! - barfuß darin waten.
Steinstraße Schüttorf ist Zuflucht im äußersten
Westen. Die Großeltern sind schon vor ihnen da, Grafschaft
Bentheim hört sich ganz gut an. Eine weitere Bettstelle
kommt an die Wand, ein Strohsack wird hereingetragen. Die
Küche ein länglicher,
finsterer Raum, zum Klosett auf dem Hinterhof müssen
sie auf die Straße hinaus und zwischen den Häusern
die hohle Gasse nehmen. Auf dem Ofen, stumpf wie das rußige
Ofenrohr, steht eine eiserne Pfanne.
Heute weiß ich, warum der Ofen in Klaras Labyrinth seinen
Platz gefunden hat - und warum ausgerechnet die Pfanne. Halb im Spaß,
halb im Ernst ... der Großvater schnappt sie und
droht, sie hineinzusetzen, sie ist wohl zu lebhaft gewesen.
Denn obschon Klara klein ist, sie ist schnell wie der Wind
- wild nennt
es die Mutter, sie runzelt die Stirn und schüttelt
den Kopf: „Seit das Kind läuft,
läuft es auf Zehenspitzen!“
Doch die Pfanne ist heiß an dem Tag. Der Rand hat der
Kleinen, nur weil sie sich sträubt, eine Brandwunde quer über
den Handrücken
zugefügt. Nu, nu! Die Stimme der Großmutter
reibeisenrau. Mariechen ruft
sie und Mehl, um es auf die frische Wunde zu schaufeln.
Weil dem Mehl wie der Milch Heilkräfte innewohnen
- im Bäckerhaushalt
jedenfalls - während die Butter den Nebeneffekt eines
Lösungsmittels
hat, soll sie doch allergemeinste Teer- und Fettflecke
ausmerzen. Den Beweis liefert Klara mit zehn. Im weiß-rosa
Sonntagskleid schlängelt
sie sich durch die Drähte schmieriger Weidezäune,
weil der Weg querfeldein der kürzere ist. Im Schlafzimmer
reibt sie die Teerspur mit guter Butter heraus - ansatzlos,
wie sie aufatmend feststellt. Mutter ist gerade nicht da,
was so selten vorkommt wie Fettflecke zu der Zeit, als
der Großvater Klara die Hand verbrennt. Eine knappe
Tasse Mehl ist der Vorrat, nicht ein Gramm Butter, kein
Tropfen Milch. An Mutters Gesicht an dem Tag kann Klara
sich nicht erinnern. Wohl aber an die hässliche
Wunde. Die Ränder, entflammt, wölben sich hoch
und nach außen.
Mutters und Großmutters Kopf einträchtig über
der Wunde. Zu
viel Mehl oder zu wenig? Und wäre die Milch
nicht die bessere Lösung gewesen?
Auf jeden Fall will sie nicht heilen, die Wunde. Die Narbe
glänzend
und breit - Klaras Wasserzeichen bis ans Ende ihrer Tage.
Jahre später ein ähnlicher Ofen an einem Ort in
der Grafschaft, der Veldhausen heißt. Ein schwarzer Bullerofen
im Schlafzimmereck. Beheizt nur im Winter, wenn ein mit Lappen umwickelter
Ziegelstein Klara die Füße wärmen muss, wenn die Nasenspitze über
der Zudecke langsam vereist und auf dem Fensterglas Blumen
sprießen,
so frostig milchweiß wie die Rosen auf Klaras Aussteuergläsern
mit eckigem Fuß.
Meine Gedanken, sie wandern - sind der Zeit und Klaras Kindheit
ein Stückweit voraus geeilt. Denn noch holpert Klara auf Feldwegen
von Gehöft zu Gehöft, Mutter bückt sich zu Klara im Wagen.
Sie putzt ihr die Nase, rückt ihr die Strickmütze
mit der Quaste und dem Muster aus Herzen und Rauten über
der Tolle zurecht und fragt sich durch zu der Bäuerin.
„Haben Sie nicht ein Butterbrot für das hungrige Kind?“
Die Schnitte gigantisch in Klaras Kleinkinderhand - hat Mutter je einen
Bissen für sich abgezweigt, hat sie bisweilen ein Stück von
dem Brot mit nach Hause bekommen? Nicht nur einmal wird Klara sich das
und anderes fragen, aber, wie es so ist im Leben, manch Pforte soll geschlossen
bleiben. So sehr sie es sich auch wünschen mag - Sinneseindrücke
wie Hunger und Kälte oder der Geschmack von Bauernbutter
auf Bauernbrot lassen sich nicht auf Knopfdruck herbeizaubern.
Dabei ist der Duft von Mehl und Brot allgegenwärtig. Denn just
in der Biegung, wo von der Straße, in der Klara wohnt, ein schmales
Gässchen zur Vechte abzweigt und zum tosenden Wehr, steht übereck
die Bäckerei Schevel, als müsse es so und nicht anders sein.
In Oberschlesien ist der Großvater Bäcker gewesen
- Bäckermeister
in Kattowitz, Mutter tippt auf eines der Fotos
mit gelblichem Zackenrand. Der Schlund des Backofens
gewaltig genug, sich Hänsel und Gretel
einzuverleiben. Oder noch besser die garstige Hexe nach dem entschiedenen
Schubs - zwei Gesellen mit Mützen halten die Brotschieber bei Fuß wie
Soldaten ihre Gewehre.
Auf dem folgenden Foto sind Mutter und Mutters Mutter
als flammende Engel im Zwielicht des Ladens vor nahezu
leeren Regalen zu sehen. Adrette weiße Flügelschürzen über dem Kleid - wer kleine
Kinder hat, darf an die wundersame Brotvermehrung glauben, die heilige
Anna gibt stets ein paar Semmeln mehr in den Korb. Wird, als die Zeiten
schlecht sind, vom Großvater schief dafür angeguckt. Aber
soll Klaras Großmutter völlig zu unrecht die heilige Anna genannt
werden? Wohl kaum, kann sie das Geben doch noch schlechter
lassen als das Beten. Nu nu, ihre Lippen stülpen sich
vorwurfsvoll vor und ein erhitztes aber die Kinder! folgt.
Weil - sie selbst hat fünf geboren - Kinder nunmal ihrem Herzen am nächsten
sind. Lasset
die Kindlein zu mir kommen ... ob der Großvater murrt oder
nicht, Klaras kleine, zeitlebens rundliche Großmutter handelt still
und gelassen. Tut schlicht und einfach, was sie für richtig hält.
Denn - das weiß keine besser als sie - geben ist tausendfach
seliger denn nehmen.
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